Vor Kurzem bin ich in die Welt der Ahnenforschung eingetaucht. Es ist ein schöner und spannender Zeitvertreib, mich auf die Spur der eigenen Familie zu machen. Alte Fotos haben dabei
einen besonderen Stellenwert, und manchmal versuche ich, in den Gesichtern zu lesen.
Gerade habe ich ein Bild meiner Urgroßmutter mütterlicherseits vor mir. Es ist ihr Sterbebild. Ich kann mich an sie noch als bucklige, alte Frau erinnern. Als sie 1984 starb, war ich sieben Jahre
alt.
Daneben eine Aufnahme, auf der sie als junge Frau, mit einer Rose in der Hand, für den Fotografen posiert.
Dazwischen liegen gut 60 Jahre.
Fast ein ganzes Leben liegt zwischen diesen Bildern.
Einige Sorgenfalten sind schon ins alte Gesicht gezeichnet.
Doch die Haare sind beinahe so dunkel wie als junges Mädchen.
Und der Blick ist der gleiche geblieben.
Der Blick meiner Uroma strahlt für mich auch im Alter noch Güte, Ruhe und Zufriedenheit aus.
Sie wirkt trotz all der Herausforderungen und Schicksalsschläge, die ihr das Leben bereitet hat, nicht verbittert.
Bei ihr und ihrer Generation ging es um Elementares.
Zwei Weltkriege hat sie miterlebt, der Erste hat ihr ihre Jugend genommen, der Zweite einen Sohn. Später musste sie noch den Verlust ihrer Tochter Emilie verkraften, die mit 31 Jahren an Tuberkulose verstarb, kurz, bevor Penicillin auch bei uns zu bekommen war.
Ich würde so gern mehr über das Leben meiner Uroma wissen.
Sie hatte gewiss nicht die Zeit, sich selber infrage zu stellen, zu grübeln und über die großen Fragen des Lebens zu philosophieren. Ihr Leben war geprägt von körperlicher Arbeit.
Wahrscheinlich konnte sie Vieles, was ihr in ihrem 84jährigen Leben widerfahren ist, als von Gott auferlegt sehen und daher besser annehmen.
Und ganz bestimmt war sie das, was man heute „resilient“ nennt - ausgestattet mit Widerstandskraft und Stärke. Die Fähigkeit, die einen immer wieder zum Aufstehen und Weitermachen ermutigt.
Mit Sicherheit hatte ihr Leben auch viele schöne Seiten.
Dass ihre Eltern sich gern hatten und eine gute Ehe führten, in der sie nie einen Streit mitbekam, erzählt meine Oma.
Von ihr weiß ich auch, dass ihre „Mami“ Wert auf Traditionen legte, Kraft im Glauben fand und dass sie trotz allem zeitlebens eine humorvolle und großzügige Frau war.
Ihre Großzügigkeit bekamen auch die Dienstboten zu spüren. Diese wurden damals schon zu Weihnachten und zum Geburtstag mit Geschenken bedacht und hatten eine beheizte Wohnung.
Daher war es auch immer ein Leichtes, Mägde und Knechte zu finden.
Bis ins hohe Alter sah sie einen Sinn in ihrer Tätigkeit, arbeitete im Haushalt, backte und kochte, solange es ihr gesundheitlich möglich war.
Vielleicht sollten wir, die wir heute mitten in der Corona-Pandemie mit all ihren Auswüchsen stehen, einen Blick in unsere eigene Vergangenheit, in unsere Familiengeschichte werfen?
Vielleicht finden wir da ein Vorbild, das uns über diese schwierige Zeit hinweghelfen kann?
Vielleicht relativiert dies die Sicht auf unsere derzeitigen Nöte, unsere Belastungen, unsere Ängste?
Wir sehnen uns nach Normalität, Öffnung, geregeltem Einkommen, einem sicheren Arbeitsplatz.
Wir vermissen Gesellschaft, Kontakt, Freude, Ausgelassenheit.
Wir sind rar und ausgehungert nach diesem so zähen Jahr.
Ich bin es nach langer Krankheit auch.
Wenn ich das Bild meiner Uroma betrachte, so fühle ich mich mit ihr verbunden.
Ihr Blick erfüllt mich mit Hoffnung.
Es ist, als ob sie sagen möchte:
Alles geht vorbei - und das Leben, es wird weitergehen.
© Carmen Wurm
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